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Die Entwicklung des Sprachverständnisses

Am veröffentlicht von Irene Leber, Anja Vollert und Benno Lauther

Die ersten Fähigkeiten in der Entwicklung des Sprachverständnisses sind das Reagieren auf den Tonfall und bekannte Stimmen. Dann erfolgt die Reaktion auf den eigenen Namen sowie das Verstehen erster Namen und Begriffe aus dem alltäglichen Umfeld im Rahmen einer Handlung. Dieses Verständnis ist situationsabhängig. All diese Fähigkeiten können im Alltag genau beobachtet werden und können nicht mit Überprüfungsverfahren untersucht werden. Tipp mal ist nicht für das „frühe“ Sprachverständnis geeignet, das sich auf noch wenige Personen und Gegenstände aus dem persönlichen Umfeld des Probanden/der Probandin bezieht. Eine erfolgreiche Durchführung von Tipp mal setzt die Fähigkeit voraus, sich auf das Beantworten von Fragen einzulassen, welche Kinder in einem Alter von etwa zwei Jahren erlangen. Bis dahin besitzen sie zwar bereits ein Sprachverständnis für eine große Anzahl an Wörtern, verstehen aber noch nicht, dass es ihre Aufgabe ist, auf ein gefragtes Bild zu zeigen. Sie zeigen dann lieber auf diejenigen Bilder, die sie attraktiv finden.

Wörter verstehen

Verstehen einzelner Begriffe wie Nomen, Verben und Adjektiven

Es wird verstanden, dass bestimmte Begriffe durch Wörter, Bilder oder Gebärden symbolisiert werden. Auch symbolische Gegenstände wie Puppenhausmöbel oder Playmobilfiguren werden als Repräsentanten der realen Objekte erkannt. Somit wird es möglich, das Sprachverständnis mit Bildern zu überprüfen. (Um richtig zu antworten, muss der/die Proband/-in die Absicht des Fragenden als Absicht verstehen und die Bereitschaft zum Antworten zeigen.) Der passive Wortschatz umfasst neben den hier abgefragten Nomina, Verben und Adjektiven viele kleine Wörter (z.B. „mehr“ Kakao), deren Verständnis in Alltagssituationen zu erkennen ist.

Wörter situationsunabhängig verstehen

Heraushören von Wörtern aus Sätzen und situationsunabhängiges Verstehen

Wörter können nun situationsunabhängig verstanden und mit Situationen assoziiert werden. Wörter können aus ganzen Sätzen herausgehört werden. So wird bei der Frage: „Was machst Du, wenn Du Hunger hast?“ das Wort „Hunger“ aus dem Satz herausgehört und mit dem Begriff „essen“ in Verbindung gebracht. Auch das Wort „fahren“ wird mit dem „Auto“ in Verbindung gebracht, obwohl das Antwortbild „Auto“ ohne Fahrer abgebildet ist und damit niemand zu sehen ist, der tatsächlich fährt.

Plural und Präpositionen

Verstehen von Singular und Plural

Neben den hier abgefragten Wortarten werden auch viele andere schwer abbildbare Wörter aus dem Alltag verstanden. Es werden nun kleine Unterschiede zwischen den Wörtern erkannt, und so kann zwischen Singular und Plural unterschieden werden.

Das Verstehen von Präpositionen

Das Nicht-Verstehen von Präpositionen kann bei Menschen mit Körperbehinderung auf einen Mangel an motorischen Erfahrungen oder mangelnde Raum-Lage-Erfahrungen hinweisen.

Sequenzen und Fragen

Verstehen von Zwei-Wort-Sätzen unter Beachtung beider Satzteile

Es werden zwei Satzglieder („Ziege“ und „fressen“) verstanden und miteinander in Beziehung gesetzt. Beide Satzglieder müssen gleichzeitig berücksichtig werden, damit die Aussage von anderen wie „Hase frisst.“ oder „Ziege trinkt.“ unterschieden werden kann.

Situationsunabhängiges Verstehen von Verben

Das Verständnis von Wörtern findet nun auch ganz losgelöst vom situativen Zusammenhang statt. Bei den Fragen „Wer kann kochen?“ und „Wer kann schwimmen?“ sind Ente und Frau nicht in Aktion zu sehen. Um diese Fragen beantworten zu können, muss der/die Proband/-in eine Vorstellung davon besitzen, was die Frau und die Ente in verschiedenen Situationen tun könnten.

Verstehen von ersten W-Fragen

Desgleichen bei der einfachen W-Frage „Was trinkt das Baby?“. Während diese Frage vielleicht noch ohne das Verständnis für das Fragewort zu beantworten ist, ist dies bei der Beantwortung der anschließenden Fragen nicht mehr möglich. Die Antwort auf „Wo wohnt der Fisch?“ ist nur möglich, wenn der/die Proband/-in eine Vorstellung davon besitzt, wo Fische sich aufhalten. Noch schwieriger ist es, bei der Frage „Wer füttert das Häschen?“ weder das Häschen noch die Möhre zu drücken, sondern dabei auch auf das „Wer“ zu achten.

Grammatik 1

Verstehen von Mehr-Wortsätzen unter Beachtung von drei oder mehr Satzteilen Fragen dieses Bereiches verlangen vom Probanden/-in die Berücksichtigung dreier Satzglieder, z.B. Junge – fahren – Fahrrad. Die Sätze werden verstanden, indem die Satzglieder der Reihe nach verstanden werden.

Verneinungen

Des Weiteren steht in dieser Phase im Vordergrund, dass jedes Wort im Satz wie „alle“ oder „nicht“ berücksichtigt werden muss, da dies die Bedeutung des Satzes umkehren kann.

Absurde Frage

Sätze werden verstanden, selbst wenn sie nach eigenen Erfahrungen keinen Sinn ergeben: „Der Junge isst ein Auto?“. Versteht der/die Proband/-in diesen Satz sehr schnell, zeigt er/sie die Verwunderung oft bereits, bevor die Antworten zu sehen sind.

Komplexe W-Fragen

Das Verstehen der Frage: „Warum weint das Mädchen?“ setzt voraus, dass sich der/die Proband/-in situative Zusammenhänge vorstellen kann, die gar nicht abgebildet sind.

Superlativ

Der Superlativ wird nur von Menschen verstanden, die vergleichen können.

Grammatik 2

Verstehen konjugierter Verben mit Pronomen und Zeitformen

Das Beantworten der Fragen in diesem Bereich setzt eine genaue auditive Differenzierung voraus. Selbst kleinste Unterschiede der Wörter verändern deren Bedeutung. Diese Feinheiten der Grammatik fallen oft besonders Menschen mit Migrationshintergrund schwer. Da in der deutschen Umgangssprache die Vergangenheits- und die Zukunftsform kaum noch gebräuchlich sind, wird in Tipp mal das Perfekt abgefragt. Als Ersatz für das Futur zeigt das Verb „wollen“ die Absicht an, etwas zukünftig zu tun.

Beachtung der Satzstellung / Komparativ

Das Verstehen dieser Sätze erfordert nicht mehr nur das Verstehen von einem Wort nach dem anderen, sondern auch die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt. Dabei muss die Deklination der Nomina beachtet werden. So wird erkannt, dass der Satz „Der Pinguin schiebt die Ente.“ den gleichen Satzinhalt hat wie der Satz „Die Ente wird vom Pinguin geschoben.“. Auch bei Sätzen wie „Die Biene ist größer als der Elefant.“ muss entgegen der eigenen Erfahrungen (Elefanten sind größer als Bienen) jedes Satzglied in seiner grammatischen Form und in der Satzreihenfolge verstanden werden.

Komplexe Verneinung

Jedes Wort des Satzes hat eine Bedeutung, so dass auch Wörter, die im Widerspruch zueinander stehen („alle” – „außer”) berücksichtigt werden müssen.

Geschichten verstehen

In diesem Bereich muss der/die Proband/-in die Informationen aus mehreren Sätzen zunächst verstehen, speichern und anschließend wieder abrufen können. Wiederholt ist eine längere Aufmerksamkeitsspanne notwendig, ebenso ein genaues Verstehen der Fragen samt den verschiedenen Frageworten und Nebensätzen.

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